Der erste Urlaub in der Toskana
Unsere ersten Italieneindrücke sammelten wir am Gardasee, zunächst noch als frisch verliebtes Paar, dann mit der fast jährlich zunehmenden Kinderschar. Wann immer es möglich war verbrachten wir ein langes Wochenende in dieser südlichen Alpenregion. Auch die Kinder spürten schnell, dass es hier mit dem Lebensstil etwas gelassener und reichhaltiger zuging und vor allem die Eltern wesentlich entspannter waren als zuhause.
Zwei unserer drei Kinder waren in der Grundschule, einer noch im Kindergarten, als wir uns mutig entschlossen, vom Gardasee aus auch einmal weiter in den Süden zu fahren. Die erste Idee war die Adriaküste, eine Region, die auf deutsche Touristen sehr gut eingespielt ist. Aber statt Bibione und Jesolo empfahlen uns gute und vertrauenswürdige Freunde lieber die Westküste mit Viareggio und Livorno. Es war damals noch die Zeit der D-Mark und der Euroschecks mit einer gesicherten Auszahlung im Ausland bis zu 300 DM, und wir waren es gewohnt, einige Scheckformulare, aber aus Sicherheitsgründen nicht zu viele, von zuhause mitzunehmen. Die Lira wurde 1:1000 gewechselt, so hatten wir immer den Geldbeutel voll von der italienischen Papierwährung.
Den ersten Anblick des Meeres hat jeder Neuankömmling aus dem Binnenland in unauslöschlicher Erinnerung. Auch wir verloren viel Zeit am ersten Küstenabschnitt, den wir ansteuerten. Wir hatten noch keine Unterkunft, machten uns deshalb auch gar keine Gedanken, denn die gastfreundliche Hilfsbereitschaft der Italiener war uns bekannt. Diese gute Eigenschaft, von den Touristen am Gardasee hochgeschätzt, haben wir ohne weiteres auch auf die Toskana übertragen – nicht zu Unrecht, wie sich zeigen sollte.
Als es nun immer später wurde, mussten wir uns um eine nächtliche Bleibe kümmern. An einem der Küstenorte, Marina di Pietrasanta, wurden wir schließlich fündig und nahmen unser Quartier ein. Es war ein nettes kleines Hotel, nicht direkt am Strand sondern ein Stück landeinwärts. Allerdings konnten wir nachts kaum schlafen, denn es wimmelte im Zimmer nur so von den kleinen, sirrenden Blutsaugern. Deshalb beschlossen wir, das Hotel zu wechseln und am nächsten Tag entspannt nach etwas Besserem zu suchen.
Der nächste Ort war Lido di Camaiore und beim Ausspähen eines ansprechenden Hotels entdeckten wir ein Tourismus-Informationsbüro. Da gingen wir stracks hinein, hatten das Glück mit einer deutschsprachigen Mitarbeiterin verhandeln zu können, die uns an ein familienfreundliches Hotel in der Via Roma verwies. Nachdem wir bei der Bank noch einmal Geld eingetauscht hatten, nahmen wir das empfohlene Hotel in Augenschein und näherten uns zaghaft dem Innenraum. Zaghaft deshalb, weil sich ein Problem aufgetan hatte, wir hatten jetzt nur noch einen einzigen Euroscheck für unseren weiteren Aufenthalt und die Rückreise auf der mautpflichtigen Autobahn, denn einen Scheck mit einem vergleichsweise geringen Betrag bezahlten wir für die eine Übernachtung in Marina di Pietrasanta. Und so wussten wir, dass wir mit den eingewechselten 300.000 Lire und einem letzten Scheckformular nicht auskommen würden. Aber wir konnten als 5-köpfige Familie auch nicht im Auto schlafen, das wäre zu widersinnig gewesen. Und vorzeitig nach Hause fahren kam schon gleich gar nicht in Frage. Unsere Überlegungen, wie wir mit der Situation klar kommen könnten, führten unsere Gedanken zu einem italienischen Freund, den wir vor Jahren kennen lernen konnten und von dem wir wussten, dass er in einer Bank arbeitete. Das Hotel war wirklich typisch, vorne die große Kaffee-Bar für das Publikum und entsprechend besucht und nach hinten der Ess-Saal für die Hotelgäste. Der Hotelier führte uns wohlgelaunt in unsere beiden Zimmer, alles sehr sauber. Bei geöffnetem Fenster konnten wir das Meeresrauschen hören, das Meer war nur eine Straßenzeile entfernt, aber Stechmücken gab es hier keine. Es war also alles perfekt, bis auf unser fehlendes Geld und damit die nicht vorhandene Zahlungsfähigkeit. Meine Frau und ich schlichen mit hängenden Schultern die Treppen hinunter zur Rezeption, die Kinder waren längst im Hotelpark und liefen zwischen den Bäumen herum. An der Rezeption baten wir, ob wir einmal telefonieren dürften, was uns gestattet wurde. Wir riefen den Bank-Freund an und unterhielten uns in Englisch über unsere missliche Situation. Unsere Idee war, dass er uns per Express an diese Hoteladresse ausreichend Geld schickt, das wir ihm dann nach unserer Heimkehr aus Deutschland zurück überweisen wollten. Das hielten wir für ganz unbedenklich, aber unser Freund fand das recht umständlich. Der Hotelier saß etwas seitlich von uns, und sein doch so freundliches Gesicht wurde mehr und mehr befangen, denn er merkte wohl, dass seine neuen Gäste irgendein Problem hatten, das möglicherweise auch mit ihm zusammen hing.
Eine Überraschung: gelebte toskanische Gastfreundschaft
Schließlich, nach dem telefonischen Hin-und-Her bat uns der Freund, dass wir jetzt den Wirt ans Telefon bitten sollten. Er nahm den Hörer mit einem etwas verkniffenen Gesichtsausdruck, man konnte ihm förmlich ansehen, dass er höchst beunruhigt war. Nachdem er kurze Zeit ohne etwas zu sagen zugehört hatte, hellte sich sein Miene mehr und mehr auf und wir verstanden immer wieder „o niente, niente“ und schließlich das „Va bene“ und er gab uns den Hörer lächelnd zurück. Unser Freund informierte uns darüber, was die beiden vereinbart hatten, und das war für uns wirklich unglaublich: wir bräuchten jetzt erst mal gar kein Geld, was wir an Kleingeld benötigen, das streckt uns das Hotel vor und am Ende unseres Aufenthaltes würde er uns noch Benzin- und Straßengeld mitgeben, damit wir wieder gut nach Hause kämen. Unser letztes Scheckformular sollten wir dann mit dem Betrag ausfüllen, der sich über die Tage aufaddiert, also Zimmer, Vollpension, Eis und Getränke an der Bar plus die Fahrtkosten. Darüber hinaus würde uns der Hotelier täglich mit dem ausstatten, was wir an Kleingeld bräuchten. Und um zu demonstrieren, dass er es wirklich so meinte, drückte er uns gleich einen 50.000 Lire-Schein in die Hand, so für die erste Zeit. Wir waren über die Maßen verblüfft, über diese für uns völlig unglaubliche und fantastische Wendung. Wir wussten, dass unser letztes Scheckformular nur bis zu 300 DM sicher gedeckt war und wir diesen Betrag ganz erheblich überschreiten würden. Damit war klar, dass der Hotelier uns ein Vertrauen entgegen brachte, das normalerweise eine fremde Familie nicht erwarten kann.
Und es funktionierte perfekt. Abends, nach dem Abendessen, natürlich typisch Toskana mit Pasta, Fisch, Fleisch und allem, was es Gutes in der Toskana gibt, holten wir uns an der Rezeption unser Taschengeld und verbrachten die Abende an der kilometerlangen Promenade die von Lido di Camaiore bis nach Viareggio führt. Wir genossen das abendliche Treiben, die Kinder freundeten sich mit vielen der spielenden und tobenden Kinder an, während wir Eltern diese unbeschreibliche abendliche Stimmung in uns aufsogen. Wir konnten uns kaum beruhigen über den Gedanken, welches Übermaß an Vertrauen uns diese Hoteliers-Familie entgegenbrachte. Zum Beispiel war am dritten Abend der Wirt gerade an der Bar beschäftigt und wir brauchten wieder „Taschengeld“. Da rief er uns zu, wir sollten uns an der Kasse nur bedienen. Also gingen wir um den Tresen, öffneten die Geldschublade, nahmen uns einen Schein und legten eine Quittung ein. Wieder waren wir über die Maßen verblüfft.
Neben dieser kaum zu beschreibenden Gefühlslage und Dankbarkeit über diesen Vertrauensbeweis erlebten wir natürlich auch die üblichen Highlights eines ersten Toskana-Ausfluges. Wir liefen auf der Mauer von Lucca, damals noch für Kinder erlaubt, sowie auf der langgezogenen Via Filungo und erfreuten uns an den Statuen des Michelangelos in Florenz mit dem internationalen Flair rund um den Dom und an so vielem anderen. Das alles in einer fröhlich-heiteren und unbeschwerten Stimmung, nicht zuletzt, weil wir uns aus der Kasse des Hotels bedienen konnten. Aber nicht nur das, der Wirt führte uns auch in seinen Weinkeller und zum ersten Mal probierten wir Weine mit einem unbeschreiblichen Geschmackserlebnis. Wir verbrachten eine geraume Zeit zwischen den rot-flüssigen Kostbarkeiten, aus Weingütern, von denen wir vorher nie etwas gehört hatten. Dann besuchten wir auch den privaten Garten der Familie, mit Hühnern, Enten und Kaninchen, alles Tierarten, die wir auch auf der Speisekarte entdeckten. Kurzum, wir waren während unserer Urlaubstage voll in der Familie integriert.
Aber auch diese Tage des unbeschwerten Glücks mussten sich einmal dem Ende zuneigen und es kam der Tag des Abschieds. Wir überflogen die noch auf uns zukommenden Kosten, erhielten das letzte Mal „Taschengeld“ und stellten jetzt unseren letzten Euroscheck aus über einen ansehnlichen Betrag, der natürlich weit über der gesicherten Bank-Deckung lag. Der Abschied war rührend und herzergreifend. Dieser erste Aufenthalt in der Toskana entzündete eine unauslöschliche Liebe in unseren Herzen, die seither nicht nachgelassen hat. Der Kontakt zu dem Hotelier besteht heute noch.
Klaus und Dorothea Leist